#36 | Canon, Seattle, USA


Last Visit: June 2024

Seattle, im Nordwesten der USA gelegen, kurz vor der kanadischen Grenze, beherbergt nicht nur die Headquarters von Starbucks und Amazon, sondern auch eine ganze Reihe von hervorragenden Bars. Zudem bietet die Stadt, umgeben von vielen Seen, dem Meer und jeder Menge Grünflächen, auch abseits vom Großstadtstress eine Vielzahl an Möglichkeiten, um sich zu erholen und abwechslungsreiche Outdoor-Aktivitäten zu unternehmen.

In Capitol Hill, nein, nicht der mit dem Senat der USA, sondern ein Stadtteil von Seattle, befindet sich eine kleine, von außen noch sehr unscheinbare Bar: Die Canon Bar

Direkt beim Betreten der Bar bekommt man das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen. Die Bar hat einen allgemein sehr klassischen Stil, mit Hauptfokus auf die gewaltige Ansammlung an Flaschen in den Regalen.

Diese, sowie die Tische, Bartresen und weitere Bereiche des Interieurs sind aus dunklem Massivholz. Die indirekte Beleuchtung, wie auch die Kronleuchter und spartanisch von der Decke hängenden Glühbirnen mit ihrem angenehm warmen Licht geben einem auch bei Tageslicht ein gemütliches und stilvolles Ambiente.

Man ist umgeben von unzähligen Abfüllungen, die schön in Szene gesetzt sind und regelrecht auch als Besucher Sammelfieber auslösen. Diese befinden sich nicht nur hinter der Bar, sondern auch im Gastbereich, hoch oben auf den Holzbalken, über den Tischen der Gäste oder auch eingeschlossen unterhalb von Sitzgelegenheiten, die als Tisch mit Barhockern dienen (siehe Fotos unten). Eine wirklich faszinierende und imponierende Bibliothek, hinter der merklich Leidenschaft und vor allem Zeit stecken wird.


Der aktuelle Flaschenbestand besteht aus über sage und schreibe 4.000 Spirituosen. Angefangen bei Whisk(e)y, Rum, Cognac, Mezcal, Tequila, Gin und vielem mehr. So verwundert es kaum, dass die Canon Bar, Amerikas Bar mit der größten Spirituosensammlung ist und weltweit eine der größten amerikanischen Whiskey Sammlungen beherbergt. Zahlreiche offizielle Auszeichnungen bezeugen die Sammelwut.

Darunter befinden sich beispielsweise auch besondere Raritäten aus den 1930ern, da wird es schon historisch besonders interessant, ganz abseits des möglichen Geschmacks und der reinen Seltenheit. Für die Auswahl an puren Spirituosen wird ein Tablet gereicht, welches jedoch in einem schönen Ledercover eingebunden ist und weit über 150 Seiten zum Stöbern bereithält.

Bei einem 19 Jahre alten Old Fitzgerald Bottled-in-Bond konnte ich letztendlich auch nicht widerstehen. Dabei handelt es sich um ein Bottling aus 2022, das ursprünglich für knapp über 220 USD rauskam und wie im crazy Bourbon-Markt üblich inzwischen bei knapp 1.000 USD gehandelt wird.
Im Aroma war der Alkohol wundervoll eingebunden und samtig, eine leichte Nussigkeit, mit tiefer Eiche und recht trockener Süsse, etwas Vanille, Tabak und Leder waren präsent. Beim Antrinken überraschte mich insbesondere die unheimliche Tiefe. Volle, würzige Eiche, jedoch ohne anstrengend zu sein, mit toller leichter Nussigkeit und einer angenehmen Süße, die alles abrundet. Diese zeigt sich insbesondere mit Vanille, dunklem Karamell und einem Hauch Ahornsirup. Dazu ein voller langer Abgang, ölig-trocken werdend, immer wieder volle Eiche, mit etwas Leder und feinen Gewürzen. Ein sehr vielschichtiger und tiefer Bourbon. Der Abgang ist gefühlt ewig.

Je länger man die Augen schweifen lässt, desto mehr liebevolle Details entdeckt man, nicht nur in der Bar. Auch das stille Örtchen ist sehenswert aufwendig gehalten, mit viel dunklem Holz, sowie Barbüchern als Dekoration entspricht es dem restlichen Stil der Bar.

Die Canon Bar öffnete im Jahre 2012 und wurde direkt vom Seattle Magazine zur „Best New Bar in Seattle 2012“ gekürt. Nur zwei Jahre später schafft man es, damals phänomenal, auf den sechsten Platz (!) in der World's 50-Liste von Drinks International. Die Euphorie, die Leidenschaft, die Freude an der Arbeit und der Blick für das Wesentliche sind schönerweise nach wie vor da und spürbar.

Darüber hinaus sollte man über Jamie Boudreau's persönliche Relevanz für quasi all das, was wir hier machen, sprechen. So hat zwar das Canon erst 2012, also fast ein Jahrzehnt nach dem Beginn der modernen Cocktail Renaissance geöffnet. Doch war Jamie quasi ein Digital Native der ersten Stunde im Bereich des Cocktail Bloggings, schon 2004 startete er einen weitverbreiteten Mixing-Blog in den USA, arbeitete bereits als Bartender und nur um final sein eigener Chef zu sein, kam das Canon 2012 dazu, auch wenn es wirkt als sei es schon viel länger an diesem Ort. Darüberhinaus hat er insbesondere uns bei LT auch über seine Videos auf Youtube, auf dem Small Screen Network, viel Motivation, Inspiration und wichtige Kniffe und Tricks beigebracht, danke dafür, Jamie.

Die Karte (siehe ganz unten für Auszüge) ist stark historisierend gestaltet, man denke an das späte 19. Jahrhundert bis hinein in die 1920s und entsprechende Zeichnungen und Dekorationen. Sicherlich kein neues Konzept, aber sehr nett und detailverliebt umgesetzt. Die Gliederung der unterschiedlichen Kategorien wird durch eine große Überschrift und eine kurze Erklärung deutlich. Es wird nichts dem Zufall überlassen und so entdeckt man neben dem Namen des Drinks und den Zutaten das entsprechende Glas/Gefäß worin der Drink serviert wird, meist in Anspielung auf den Namen des Drinks. Von ausgefallen bis klassisch schlicht ist hier alles dabei.

Die Kategorie „Rarities“ hält besondere Schätze bereit und katapultiert einen von den Zutaten zum Teil bis 1935 zurück. Beispielsweise ein Champs Elysees mit Cognac aus ca. jenem Jahr und bei heutigen Preisen fast noch verrückter, ebenso Chartreuse aus den 1930s. Dementsprechend tief muss man auch in die Tasche greifen für einen Drink (in jenem Fall knapp unter 600 USD). Trotzdem muss man sich vor Augen halten, dass dies nur noch in ganz wenigen Bars weltweit überhaupt möglich ist und beispielsweise Chartreuse aus der Zeit alleine bei über 2000€ liegen würde auf Auktionen heutzutage.

Bei der großen Bandbreite an Cocktails sollte allerdings für jeden etwas dabei sein, ansonsten einfach den freundlichen Service oder einen der zuvorkommenden und kompetenten Bartender fragen und man bekommt sicherlich eine spannende Empfehlung, auch außerhalb des Menüs. Ein Schwerpunkt der Bar sind eine ganze Reihe selbst hergestellter Bitters in verschiedensten Variationen, die hier nicht nur zum Einsatz kommen, sondern auch vor Ort in der Bar erworben werden können. Generell kommen viele hausgemachte Zutaten und modifizierte Spirituosen zum Einsatz.

Etwas aus der Kategorie „man liebt es oder man hasst es“ sind die geräucherten Drinks. Ich kann vorwegnehmen: Noch nie hatte ich so ein perfektes Zusammenspiel zwischen den Zutaten des Drinks und dem jeweils ausgewählten Holz für den Rauch und wiederum dessen nicht aufdringliche, aber sehr aromatische Intensität.

Vor dem Besuch sollte man jedoch auf jeden Fall die FAQs lesen, um später nicht enttäuscht zu werden, wenn man z. B. einen Spontanbesuch mit mehr als vier Personen plant. Dies ist leider aus Platzgründen und wegen des hohen Aufwands der Drinks und eigenem Anspruch der Bar nicht möglich.

Canon's Cannon

| Maker’s Mark Cask Strength Whisky
| Floral Liqueur
| Amaro
| Housemade Blueberry-Thyme Shrub
| Barrel Aged

Präsentation und Name deuten hier augenscheinlich auf das Aushängeschild der Bar hin. Serviert wird er in einer Kanone und mit fassstarkem Whisk(e)y als Spiritbase. Ein aromatisch vollmundiges Geschoss und trotz des Maker’s Mark Cask Strength schön rund und mit toller Balance. Blumig, sowie leicht fruchtig mit Noten von Heidelbeeren und etwas Vanille als Auftakt und Mittelteil. Abgerundet wird das ganze von einer frischen, herben Kräutrigkeit, mit Thymian, anderen mediterranen Noten und einer unterschwelligen, recht milden Säure. Der Abgang ist trocken, ölig werdend, mit angenehmen, verweilenden Eichennoten.

Ein in Summe komplexer Drink mit toller Tiefe, der aber auch nicht überfordert und definitiv eine Empfehlung nicht nur für Whisk(e)y Liebhaber ist.

Reyes' Cocktail

| Mezcal
| Agave
| Cocchi Americano
| Fresh Lime
| Puréed Melon
| Hint of Habanero
| Bitters
| Sage Leaf

Ein weit entfernter Riff auf einen Mezcal Margarita, der aber hier wesentlich fruchtiger und doch komplexer ist. Zu Beginn frisch und fruchtig, mit toller Balance zwischen Süße und Säure, wie im Übrigen bei jedem probierten Cocktail in der Canon Bar. Mezcal und Agave ist natürlich sowieso immer ein gutes Match. Aufgrund der Farbe und der etwas leichteren Melonennoten, die von Anfang bis Ende mitschwingen, tippe ich auf eine Honigmelone. Passend dazu der Cocchi Americano, der ein Hauch Würze und Orangenschale, sowie Traubennoten mitbringt. Umspielt wird das Ganze weiter von einer gewissen Kräutrigkeit, mit leicht rauchigen Aschenoten des Mezcals und einer subtilen Schärfe, die im Finish alles abrundet.

Ein fruchtiger, leicht komplexer Cocktail mit schönem Aromenspiel und wieder einen Tick auf der süffigeren Seite. Trotz der Ergänzungen im Rezept kommt der Mezcal aber genügend durch.

Unsinkable

| Genever
| Chartreuse
| Apple & Lemon Juice
| Vanilla-Peach Marmalade
| Angostura Bitters
| Smoke

Wenn sich Nebel und Sturm langsam legen, erscheint das Schiff am Horizont, beladen mit einer Fülle von Aromen, der Unsinkable.

Den Auftakt bildet ein sehr fruchtiges Potpourri und ist eher auf der leichteren, süffigeren Seite. Saftiger Pfirsich mit Vanille und frischen Apfelspalten, abgerundet durch etwas zurückhaltende, aber dennoch frische Zitronensäure, sowie einem kleinen Hauch Zimt. Die Angosturabitter greifen das leicht herb-kräutrige der Chartreuse und des Genever auf und verleihen dem Drink dann hinten raus eine dezente Würze mit gewisser Tiefe. Eingehüllt wird das Ganze von leichten geräucherten, holzigen Noten, die sich hervorragend einbringen und dem ganzen Drink eine angenehme Vielschichtigkeit verleihen.

Der Unsinkable ist für mich als Drink ein perfekter Einstieg in die Welt der geräucherten Cocktails, da er einen nicht überfordert und somit auch Erstprobierern diese Technik nahebringen kann. Schön abgestimmt und mit einer Präsentation, die sich sehen lassen kann.

Camp Fire in Georgia

| Mezcal
| Puréed Peach
| Habanero
| Fresh Orange Juice
| Caramelized Cinnamon
| Cherry- & Applewood Smoke
| Bitters

Der Name ist Programm, mehr braucht man eigentlich nicht zu sagen. Der Camp Fire in Georgia brennt zum Abschluss wahrlich nochmal die Hütte ab. Zuerst wurde der leere Tumbler unter der Glasglocke geräuchert, um im Anschluss den fertigen Drink nochmals unter die Räucherglocke zu stellen.

Nach dem Abheben strömen einem Noten eines Lagerfeuers mit leicht feuchtem Holz in die Nase. Der erste Schluck ist vollmundig und fruchtig, mit dezenter runder Säure vom Orangensaft, gefolgt von (you guessed it) Lagerfeuerrauch. Es folgen fein geräucherter, karamellisierter Zimt mit Pfirsich, Apfel und Birne, sowie leicht erdigen Noten, die einen zusammengenommen an herbstliche, ausgetrocknete Wälder erinnern. Hinten heraus kommt ein Hauch Schärfe vom spicy Zimt und im langen herbstlichen Abgang die sehr softe Habaneroschärfe mit angenehmer Tiefe. Ein Drink mit abwechslungsreichen, vielfältigen Aromen, die sehr komplex und dennoch süffig daher kommen und gefühlt ewig im Mund verweilen.

Der Camp Fire in Georgia ist wohl einer der besten geräucherten Cocktails, die ich je hatte. Ich war erst unschlüssig, da er sich nicht allzu spektakulär liest, mit seinen zwei Früchten in den Zutaten, aber das Feuerwerk, was er im Mund abbrennt, war ein gebührender Abschluss für unseren Besuch.

Die Canon Bar wirkt von außen recht unscheinbar und man könnte denken hinter dem salonartigen Aussehen versteckt sich eher ein größerer Pub mit Bier und Whiskey.

Wirft man jedoch ein Blick durch die Tür, eröffnet sich einem eine ganz andere Welt als gedacht, es macht sich Faszination breit und das Gefühl hier als Fan klassischerer Bars an Ort und Stelle genau richtig zu sein. Beim Betreten steht man schon im Mittelpunkt des Geschehens, denn die komplette Bar ist optisch und auch geschmacklich ein Highlight. Ein Ort mit Charme, soften Klängen der Musik, guten Gesprächen und erstklassigen, leicht klassisch angehauchten, aber stets top balancierten Cocktails, die einen immer wiederkommen lassen wollen.

/tg


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